Backcountry-Snowboarden in der Hardangervidda

Mit Pulka und Zelt – Freiheit!

Traum oder was…? Dumpf dringt Stefans Stimme zu mir durch: „Martin, Du musst aufwachen! Ich bekomme den Schnee nicht mehr vom Zelt!“ Mitten in der Nacht, kilometerweit von der Zivilisation entfernt und bei arktischen Verhältnissen bedeutet dies nicht gerade Entspannung. Es ist 3 Uhr. Um unser kleines rotes Kuppelzelt wütet ein Schneesturm und die Temperaturen bewegen sich im Bereich der heimischen Tiefkühltruhe. Es hilft nichts, wenn wir nicht unter einem Schneeberg für immer einschlafen möchten, müssen wir raus.

Schuhe wie Beton

Die Schuhe und Schnürsenkel sind hart wie Beton gefroren und es kostet Überwindung die Füße hinein zu zwängen. Draußen geht die Sicht gegen Null und die Eiskristalle die mit weit über hundert Stundenkilometer waagerecht durch die Luft geschleudert werden treffen wie Nadelstiche auf jede freie Hautstelle. Eine Stunde benötigen wir um das Zelt frei zu schaufeln und den Schutzwall aufzustocken. Dann legen wir uns wieder in eine Hülle aus Daune und Kunstfaser und schlafen weiter…

WARUM?
Mal wieder so RICHTIG RAUS, die Stille und Weite spüren, den eigenen Herzschlag hören, Snowboard- Erstbefahrungen, keine Lifte, keine Schneescooter, keine Helikopter und dem Körper zeigen das es nicht nur Schreibtischstuhl und Computer gibt.
DARUM!

Nicht um die halbe Welt fliegen…

Da wir nicht um die halbe Welt fliegen wollten kamen wir nach kurzer Recherche auf Norwegen. Dort liegt mit 8.000 km² die größte Hochebene Europas mit einer Gebirgsregion im Westen. Die Hardangervidda. Bedingt durch die Nähe zum Meer sehr schneereich und oft arktische Verhältnisse aufweisend, hat sich diese Region als Trainingswiese für Arktis- und Antarktisexpeditionen bewährt. Schon der erste Mensch am Südpol Roald Amundsen hat sich hier auf seine Touren vorbereitet. Heute durchzieht ein Netz von Wegen diesen Nationalpark und in den Sommermonaten ist von einem regelrechten Touristenansturm die Rede. Auch im Winter gibt es markierte Hauptrouten mit in Tagesetappen zu erreichenden Hütten. Wer sich aber abseits dieser bewegt oder in die schwer zugängigen gebirgigen Teile vordringt der findet im Februar und März eine bezaubernd einsame und extreme Winterlandschaft.

Whiteout

Wir haben uns vor Tagen von unserem Ausgangspunkt Haukeliseter über steile Hänge, hügelige Regionen und zugefrorene Seen mit Ski, Schneeschuhen und 60kg schweren Gepäckschlitten in die Berge aufgemacht um nach einigen Tagesetappen ein Basislager zu errichten. Von hier aus geht es nun, wenn das Wetter es zulässt jeden Tag auf einen einladenden Gipfel oder einfach mit leichtem Gepäck in verschieden Täler und durch die verschneite Traumwelt. Im Idealfall werden wir am Morgen durch die Sonnenstrahlen, die das Zelt leicht erwärmen geweckt und die Sonnenbrille kommt schon für den ersten Blick aus dem Zelt schützend vor die Augen um nicht durch die Abermillionen von funkelnden Schneekristallen überfordert zu werden. Teilweise muss aber auch die Skibrille herhalten, nämlich dann wenn die Sonne es nicht durch die dichte Wolkendecke schafft, draußen sogenannter „whitout“ (Nur wenige Meter oder Zentimeter Sicht, da durch Schnee am Boden und in der Luft alle Konturen verschwinden) herrscht und die Augen vor herumwirbelnden Kristallen geschützt werden müssen. Heute ist so ein Tag. Obwohl wir in der Nacht das Zelt freigeschaufelt haben, ist morgens das gleiche Prozedere angesagt. Deshalb gibt es noch im Schlafsack eine ordentliche Portion Energieriegel. –Nein, nicht „himmlisch yogurtleicht“ schmeckende und die laut Werbung Gesundheit und Schlankheit suggerieren sondern vor Fett, Zucker, Eiweis und Kohlehydraten strotzende Barren die es ermöglich mal eben schnell 1500cal zu zuführen. Das Gute daran: durch die Kälte und körperlich Anstrengung nimmt man trotzdem ab.

Wir haben uns eine kleine Küchenecke und eine Schneehöhle einige Meter entfernt vom Zelt eingerichtet. Die Spuren dort hin sind unter dem vielen Neuschnee verschwunden und wir müssen auch hier alles frei schaufeln. Dann beginnt das übliche Ritual der Wassergewinnung. Unsere Kocher laufen täglich einige Stunden um genügen Schnee zu schmelzen, damit der Flüssigkeitshaushalt unserer Körper im Gleichgewicht bleibt. In der mit gemütlichen Sitzplätzen ausgestatteten Schneehöhle gibt es dann „richtiges Frühstück“. Vollkornbrot, Müsli, Salami, Margarine und Kaffee.

Der Wind lässt nach und die Sicht erlaubt einen Tagestrip über zugefrorene Seen und leicht kupiertes Gelände. Ein GPS mit sich zu führen ist keine schlechte Idee, da die Orientierung je nach Region und Verhältnissen nicht ganz einfach ist. Gegen Abend besteige ich noch unseren Hausberg und kann einige jungfräuliche Hänge in der Gegend unsicher machen. Die Dämmerung setzt ein und die ersten Sterne sind am Himmel zu sehen. Das Barometer klettert von Stunde zu Stunde und wir können uns allem Anschein nach auf einen sonnigen nächsten Tag freuen. Es gibt noch eine Doppelpackung Expeditionsnahrung aus der Tüte und einen sogenannten „Nuancierten“ (Tee mit einer Nuance Rum). Wobei wir schnell feststellen, das offensichtlich unser Geschmackssinn nachlässt und so wird daraus schnell ein „ordentlicher Tee mit Rum“…

Die Nacht verläuft angenehm, kein Wind, nicht zu kalt (-15 Grad im Zelt) und endet mit einem herrlichen Sonnenaufgang. Wir beschließen einen der großen Gipfel in unsere Umgebung zu erklimmen. Mit Fotoausrüstung und Tagesverpflegung im Rucksack ziehen wir einige Kilometer leicht ansteigend Richtung Berg. Langsam nimmt die Steigung zu. Die Sonnenintensität ist enorm, unsere jetzt schon verbrannten Nasen schützen wir durch nicht gerade designpreisverdächtige Klebebandkonstruktionen. Der Schweiß rinnt in Strömen und ich frage mich mal wieder was es mit der „Atmungsaktivität“ der Jacken auf sich hat. Kurz vor dem Gipfel werden die Ski deponiert und der Rest per Pedes in Angriff genommen. Ein weiteres mal stelle ich fest: Gipfel sind der Gipfel! Atemberaubendes Panorama, das Gefühl oben angekommen zu sein und die Gipfelrast sind Momente die schwer zu toppen sind. Mit dem Teleobjektiv ist gerade noch unser von Bergen und Einsamkeit umrahmtes Lager auszumachen und der stahlblaue Himmel setzt der Szenerie im wahrsten Sinne die Krone auf. Wieder am Zelt angekommen wird es Zeit die Kocher auf Hochtouren zu bringen, auch heute gibt es einen wohlschmeckenden Tee und wir versinken tief und fest im Reich der Träume.

Ruhebereich…

Tags darauf steht ein „Ruhetag“ auf dem Programm. Dies bedeutet für mich Fotos machen, kleine Abfahrten in der Umgebung zu unternehmen und Stefan hat sich ein besonderes Projekt vorgenommen. Die sogenannte „chill-out-zone“ soll entstehen. Diese ca. 20m2 große Ruhezone im Schnee wird uns noch viel Spaß bringen! Zunächst komprimiert er den Untergrund mit Schneeschuhen um eine feste Struktur der Bauzone zu schaffen. In dreistündiger harter Arbeit shapt er zwei Betten mit ergonomischer Nacken-stütze und Windschutzwall. Somit steht entspanntem Sonnenbaden nichts mehr im Wege! Die Folgetage wird hier auch in fürstlichem Ambiente das Frühstück eingenommen…

Rückzug

Fast schon wehmütig müssen wir irgendwann unser Basislager abbauen, unsere Pulkas beladen und wir ziehen wieder los um die Zivilisation zu erreichen. Da sich der Schnee gesetzt hat und wir einiges an Gewicht aus den Schlitten „weggefuttert“ haben ist die Strecke nicht mehr so anstrengend wie zu Beginn. Kurz vor Erreichen unseres Ausgangspunktes zeigt der Wind sich aber nochmal unfreundlich und das Gesicht muss wieder komplett vermummt werden. Am vorletzten Tag bricht mir die komplette Bindung aus der Verankerung im Ski, für die verbleibende Strecke ist Schneeschuhlaufen angesagt. Auch einige Traversen entlang von steilen Hängen machen uns bzw. den Gepäckschlitten zu schaffen. Mehrfache Überschläge müssen unsere „Anhänger“ aushalten. 1km vor dem Ziel bricht bei einem solchen Vorfall der Befestigungsmechanismus an meinem Zuggestänge. Leicht lädiert erreichen wir wieder Haukeliseter und gönnen uns im dortigen Restaurant große Fjällburger. Der Rotwein entfaltet seine wohlige Wirkung und wir ziehen uns ins Massenlager zum Schlaf zurück. Gefühlt mitten in der Nacht, in Realität aber schon morgens höre ich wieder Stefans Stimme dumpf zu mir durchdringen: „Martin, Du musst aufwachen, die Rückreise steht an!“

Unser Fazit zur Tour:

TOP! Optimal für jeden Winter-Outdoor-Fan. Die Hardangervidda ist die ideale Spielwiese für Wintertouren. Ob Langstrecken-Touren oder mit Basislager irgendwo in der Abgeschiedenheit.

Infos:

Beste Reisezeit für Wintertouren: Ende Februar bis Anfang April.
Wer zum ersten mal eine Wintertour unternimmt, sollte sich an markierte Routen halten und sich vorher genauestens über die Anforderungen informieren. Auch bei reinen Hüttentouren IMMER Notfallausrüstung wie Biwacksack, Winterschlafsack und Notration mitführen. Gute Orientierungskenntnisse sind unumgänglich.

Touren wie oben beschrieben [abseits der Routen in gebirgiger Region], sollten nicht ohne Vorkenntnisse unternommen werden und erfordern Kenntnisse bei der Beurteilung von Lawinengefahren, überleben in autarken und kalten Regionen, entsprechende Ausrüstung, ein eingespieltes Team usw.

Bücher Tipp:

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